Freitag, 4. November 2016

Zwanzigtausend Pfund für ein Menschenleben

Mitten in der Nacht machen wir uns auf den Weg zum Flughafen. 5:50 Uhr ist keine menschenfreundliche Zeit, um den Urlaubsflug von London nach Berlin anzutreten. Als ich ins Taxi steige, hängt mein Gefühl irgendwo zwischen Vorfreude und dem Drang, sofort ins Bett zurückzukehren. Es wird noch lange nicht hell. 

Wir fliegen Norwegian Air, zum ersten Mal. Das mit dem Einchecken hat nicht geklappt, und so gehen wir zum Check-In Desk. Ganz offensichtlich hat auch die Frau am Schalter die Tagessonne noch nicht gesehen. Mürrisch blickt sie auf eine Liste, hadert mit unseren Namen und versucht uns noch irgendwo unterzubringen. Es dauert. Ist vielleicht der Flieger voll? Das kann doch nicht so kompliziert sein. Die Tickets sagen 29C und 30C. Wir sitzen nicht nebeneinander. Das ist auch ok. Wir wollen sowieso schlafen, um ausgeruht in Berlin anzukommen. 

Als wir das Flugzeug besteigen, kommen uns zwei Polizisten entgegen und geben dem Kabinenpersonal das ok. Ich frage mich kurz, was die wohl an Bord gemacht haben, habe die Frage beim Verstauen des Handkoffers aber schon wieder vergessen. Mein Mann sitzt in der zweitletzten Reihe. Alleine. Neben ihm und in der hinteren und letzten Reihe ist niemand. Es ist uns ein Rätsel, warum die Frau am Schalter uns nicht zusammen gesetzt hat, aber eigentlich ist auch diese Frage müssig, wir sind einfach müde. Ich schaue auf die Uhr. In 15 Minuten sollte der Flieger loslegen.

Ein Mann kommt herein. Er trägt ein Jacket und einen Badge um den Hals. Er lehnt sich zu meinem Mann. Er sagt irgendwas von Lärm, aber dass das dann vorübergehe. Hat Norwegian Air besonders lärmige Flieger? Ist etwas kaputt? Oder weil wir ganz hinten sitzen? Wird wohl nichts mit Schlafen. Ich drehe mich wieder nach vorne und studiere das Bordmagazin. 

"Wir transportieren Häftlinge", hat der Mann mit dem Badge zu meinem Mann gesagt. Das Paar neben mir wundert sich: "Dürfen sie das, Häftlinge einfach so auf einem Linienflug transportieren? Was haben die wohl gemacht? Sitzen wir mit dem Rücken zu einem Mörder?" Wir werden gewarnt, dass sich die Häftlinge sehr laut wehren und schreien werden, aber dass sich das während dem Flug beruhigen wird. Kurz darauf erscheint ein anderer Mann. Er sagt good morning und zückt einen Badge: "I am from the Home Office. We are transporting illegal refugees back to Germany today." Illegale Flüchtlinge also, da haben wir das Verbrechen der 'Häftlinge'. Der Mann vom Home Office (das britische Innenministerium) fährt weiter: "Das sind zwei Männer, einer aus Syrien und einer aus dem Irak, die wir nach Deutschland zurückbringen. Sie werden sich wehren und sehr viel Lärm machen, sich erfahrungsgemäss aber kurz nach Abflug beruhigen." Mir fällt das Herz in die Hosen. Die Gesichter um mich herum werden bleich. 

Fünf Minuten später werden die beiden Männer ins Flugzeug geführt. Der Mann vom Home Office hat nicht übertrieben. Die Flüchtlinge werden von je drei starken Menschen begleitet. Obwohl, nein, sie werden nicht begleitet, sie werden ins Flugzeug geschleppt, gehievt, gezwungen. Und sie schreien wie am Spiess: "Please people, help! Me no go Germany, please, no go Germany! Please people help!" Durch das ganze Flugzeug schallen die Schreie. Die Männer werden in ihre Sitze gedrückt und festgezurrt. Meine Knie sind weich und ich kann meinen Herzschlag durch den Pullover sehen. Die junge Frau neben mir bricht in Tränen aus. Wir sind alle sprachlos. Irritiert frage ich den Mann vom Home Office: "Bringen Sie die Männer nach Syrien und Irak zurück?" - "Nein, das sind anerkannte Flüchtlinge in Deutschland. Da sind sie freie Männer."

Nur, die Männer wollen in England bleiben. "Das kostet den Steuerzahler £20'000 pro Jahr", sagt der Mann vom Home Office. "Die müssen halt besser zu den Flüchtlingen schauen, da drüben in Deutschland, dann wollen sie auch wieder zurück", sagt der Mann vom Home Office. Er meint das wirklich. Dass Grossbritannien eine kleine Anzahl von 20'000 Flüchtlingen über 5 Jahre aufnimmt, während Deutschland innert kürzester Zeit weit über eine Million Neuankömmlinge aus Krisengebieten aufgenommen hat und nun deren Status prüft, das sagt der Mann vom Home Office nicht. 

Der Kapitän kommt persönlich vorbei und fragt uns, ob wir Kaffee oder Tee wollen, aufs Haus. "Wir wollen keinen Tee, wir wollen eine menschlichere Asylpolitik in Grossbritannien", sage ich hilflos. Was soll man sonst sagen. Der Kapitän zuckt nur mit den Schulten.

"Die Rückführungsflüge finden immer am Morgen früh statt. Auf der ersten Norwegian Air Maschine am Montag morgen sind immer Häftlinge", sagt einer der Begleitmänner. "Manchmal machen wir auch Charter Flüge. Pro Woche werden 20-30 illegale Flüchtlinge nach Deutschland rückgeführt", sagt er weiter, fast stolz. Er ist Soldat, hat früher Unterwasserbomben entschärft und war in den meisten Krisengebieten dieser Welt. Er hat fast ausgedient und macht jetzt noch diesen Job, ein Kinderspiel. Easy Jet mache keine Rückführungen mehr, erzählt er weiter. Zu viele Reklamationen. Zu viele unzufriedene Fluggäste. 

Der Abflug wird von den Schreien der Männer begleitet. Als wir unsere Flughöhe erreicht haben, verstummen die Schreie. Das sei das Adrenalin, behauptet der Mann vom Home Office. Medikamentöses Ruhigstellen sei nicht erlaubt. Einzig Sicherheitsgurten und spezielle Handfesseln mit Metallknöpfen, die den Männern ins Handgelenk gedrückt werden können. 

Wir landen in Berlin. Es ist gerade hell geworden. Die Männer werden aus dem Flugzeug geschleppt. Jetzt widerstandslos, aber immer noch in Handschellen. Dann können auch wir die Maschine verlassen. Die beiden Flüchtlinge stehen vor einem Kastenwagen, barfuss auf dem kalten Asphalt. Einer der Männer hat ganz geschwollene und rote Handgelenke von den Metallknöpfen.

Ihr Leben in Deutschland beginnt, und unser Urlaub auch. 

Wir besuchen die Atombunker des Kalten Krieges und das Stasi Museum. Die Geschichte Berlins ist die Geschichte Europas ist unsere Geschichte. Sie hat uns auf dem Hinflug schon eingeholt. 

Vier Tage später sitzen wir wieder im Flugzeug. Diesmal fliegen keine Flüchtlinge mit.