Mittwoch, 20. Juli 2016

Mitten im Leben vom Tod umgeben

Ich habe Angst vor dem Sterben. Ich fürchte den Tod. Das Nichts auf der anderen Seite, der ent-ich-te Zustand: mir graust es. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich habe keinerlei Kontrolle oder auch nur einen Schimmer von Ahnung, was da kommt. Klar habe ich Angst. Da hilft das ganze theologische (Schön-)Reden von der Erlösung und vom ewigen Leben auch nichts. Dass Gott diesen Weg auch gegangen ist, na gut, aber die Angst bleibt.

Eine Freundin von mir, auch Theologin, hat einmal an einem lauen Sommerabend beim Sommerbier gesagt: "Der Tod ist doch Verarschung des Lebens." Das hat noch keine Theologin zuvor so treffend ausgedrückt. 

Aber etwas ändert sich. Seit einigen Wochen stelle ich fest, dass der Tod seine hässliche Fratze verliert. Und ich glaube ich weiss auch weshalb. Ich bin mitten im Leben vom Tod umgeben. Was lange eine theologische Floskel war, ist Erfahrung geworden. In meinem Umfeld wird gestorben. Als Pfarrerin besuche ich regelmässig Menschen, die sich innerlich auf das Sterben und den Tod vorbereiten, und manchmal ist der Besuch der letzte Besuch vor der Beerdigung, wo ich dann zum ersten Mal die weitere Familie treffe, von denen ich so viel gehört habe. Wir sprechen bei diesen Besuchen über das Sterben, über den Tod, darüber, wie wir dem Ende entgegen schauen. Viele dieser Menschen sind weit über 90 Jahre und haben eine bewundernswerte Gelassenheit und einen inneren Frieden entwickelt. Es scheint einen Weg zu geben, sich auf den Tod vorzubereiten, und diesen Weg gehe ich ein Stück weit mit, durch Zuhören und Nachfragen. Ich spüre, wie sich diese Gelassenheit auch auf mich überträgt. 

Unverständlicher und schwieriger zu verdauen ist es, wenn die Menschen beim Abgang noch jung sind, in ihren 60ern, vielleicht 70ern, oder manchmal sogar noch jünger. Unerfüllte Träume, Zukunftspläne und Projekte müssen plötzlich der verfrühten Auseinandersetzung mit dem Tod weichen. Drei meiner Onkel sind bereits aus dem Leben gewichen. Sie sind nicht einmal 70 Jahre alt geworden, standen kurz vor oder nach der Pensionierung, wenn es doch erst so richtig losgeht. Das ist unfair. 

Sie haben die Grenze überschritten, sind auf der anderen Seite angekommen, wie auch meine beste Sekundarschulfreundin, die vor zehn Jahren schon die Seite gewechselt hatte. Und vielleicht ist es das, was mir immer mehr die Angst vor dem Tod nimmt: dass die Menschen, die ich kenne, liebe, begleite es irgendwie nach drüben geschafft haben, schon vorgegangen sind. Es werden immer mehr, und irgendwann werde auch ich die Seite wechseln. 

Theologisch gesehen kann man noch lange sagen, Gott ist diesen Weg auch gegangen, durch Jesus den Menschensohn am Kreuz. Aber Jesus hat vor 2000 Jahren gelebt, und von Gott weiss ich gar nicht so genau, wer oder was das ist. Was mir wirklich hilft, ist, dass Katja, Thomas, Willy, Agnes, Tobi, Ruth und Vital diesen Weg schon gegangen sind. Sie haben es auch irgendwie geschafft, haben die ultimative Einsamkeit erlebt und das grosse Loslassen bewältigt, in die totale Unbekannte hinein. Ich kenne diese Menschen, und zu wissen, dass sie da drüben sind, nimmt meiner Angst den Wind aus den Segeln. Nicht immer, aber immer öfters. 

Viele Menschen sind im Leben kaum mit dem Tod konfrontiert, und diejenigen, die es sind, sind oft nicht sichtbar, nicht hörbar. Wir sprechen nicht über den Tod, wagen auch nicht, das Thema mit denjenigen anzusprechen, die wissentlich schon näher dran sind oder ihn aus nächster Nähe miterlebt haben. Dabei ist da so viel Weisheit vorhanden, Worte und Einsichten, die uns, die wir mitten im Leben stehen (oder mitten im Leben zu stehen glauben) so viel geben könnten. Das grosse Loslassen kann man üben,  und wir sollten das alle tun indem wir auf die Weisen um uns herum hören. Sehr oft sind das die Alten, Kranken und Gebrechlichen, die das Haus kaum mehr verlassen oder ans Bett gebunden sind. 

Wir sollten dem Tod endlich wieder einen Platz im Zentrum des Lebens geben und beginnen, uns mit ihm zu versöhnen.